Fahrradhelden

Wir kämpfen für die demokratische Straße!

Fahrradheld Andrea Burzacchini | JobRad

Andrea Burzacchini ist Gründer und Geschäftsführer der Nachhaltigkeitsagentur aiforia mit Sitz in Freiburg. Er berät in dieser Funktion italienische Kommunen in Sachen Verkehrswende. Grund genug, ihm den Titel JobRad-Fahrradheld zu verleihen. Ein Interview über Tempo 30, Wünsche an die Fahrrad-Fee und heldenhafte Radlerinnen und Radler in Rom.

help

Sie entwickeln und koordinieren seit fast 20 Jahren in mehr als 25 Ländern Projekte und Kampagnen in den Bereichen Ressourcenmanagement, Energieeffizienz und Klimawandel. Derzeit unterstützen Sie italienische Städte und Kommunen bei der Entwicklung nachhaltiger Mobilitätskonzepte. Erzählen Sie uns davon!

question_answer

Viele Kommunen – vor allem in Norditalien – fragen sich, wie sie nachhaltige Mobilitätskonzepte am besten umsetzen können: Wie kann ein Fahrradnetz entstehen? Was gibt es beim Tempo 30 zu beachten? Darauf versuchen wir Antworten zu geben, auch mithilfe unserer lokalen Partner, wie z.B. der Beratungsforma Punto 3 in Ferrara in der norditalienischen Region Emilia-Romagna. Mit Punto 3 haben wir die Idee des „Obiettivo 2 / 3“ entwickelt - das heißt übersetzt so viel wie „Zwei-Drittel-Ziel“.

help

Was bedeutet das „Zwei-Drittel-Ziel“?

question_answer

Projekte wie „Obiettivo 2 / 3“ haben das Ziel, dass zukünftig zwei Drittel aller Wege nachhaltig zurückgelegt werden – zu Fuß, mit dem Fahrrad oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Im Moment ist es in Italien genau umgekehrt. Für die Verkehrswende sind sowohl Tempo 30 als auch die „Zwei-Drittel-Ziel“-Projekte wichtige Bausteine.

help

Ist der Begriff „Verkehrswende“ in Italien überhaupt gebräuchlich?

question_answer

In Italien wird viel über die „transizione ecologica“, also die ökologische Transition, gesprochen. Ich empfehle die Nutzung der Begriffe wie „svolta“ oder „conversione“, diese Worte bedeuten Wende. „Wende“ sagt deutlicher, was wir brauchen – eine Umkehr des Bisherigen, nicht nur ein Übergang.

help

Ihr größtes Ziel bei Ihrer Arbeit ist die nachhaltige Verkehrswende. Wie weit sind wir davon entfernt – in Deutschland?

question_answer

In Deutschland und vor allem in Freiburg, wo ich seit 20 Jahren lebe, sind wir diesem Ziel deutlich näher als in Italien – allerdings gibt es auch hier noch viel zu tun. Es gibt aber viele positive Beispiele: In Freiburg wurde an der Universität eine vierspurige Straße für den Autoverkehr gesperrt. Jetzt ist dieser Platz ein kulturelles Zentrum unter freiem Himmel und ein Treffpunkt für Menschen.

help

Und in Italien?

question_answer

Wir brauchen größere und breitere Wege – für Fußgänger und Fahrradfahrende. Es geht um eine Kultur der Straße und darum, wie der Platz im öffentlichen Raum verteilt wird. Die Straße muss wieder den Menschen gehören, nicht den Autos. Tempo 30 innerorts ist wichtig, Radschnellstraßen für Fahrradpendler sind wichtig. Wir müssen erreichen, dass Zebrastreifen respektiert werden, dass Kinder allein zur Schule gehen können – ohne Papa-Taxi oder Mama-Taxi. All diese Dinge machen den Unterschied – vor allem für ganz junge, für behinderte und ältere Leute. Für diese Idee hat der ehemalige Mobilitätsbürgermeister von Bologna, Andrea Colombo, den Begriff der „strada democratica“ geprägt. Wir kämpfen für die demokratische Straße, für die Straße für alle.

help

Welche Rolle spielt das Fahrrad aus Ihrer Sicht bei der Mobilitätswende?

question_answer

Eine entscheidende! Fahrräder haben das Potential, das Auto zu ersetzen – in der Stadt, aber auch auf dem Land. Heute können wir mit E-Bikes und Cargobikes problemlos Kinder und Einkäufe transportieren, ohne einen PKW zu benutzen. Wenn dann noch Tempo 30 gilt und es eine Radinfrastruktur gibt, die das Radeln innerhalb der Stadt und das Pendeln mit dem E-Bike ermöglicht, dann wird das private Auto in vielen Fällen überflüssig. Wir müssen den Radfahrerinnen und Radfahrern mehr Priorität im öffentlichen Raum geben, dann wird es ganz normal, mit dem Fahrrad zu fahren. Das ist die Demokratisierung der Straße, die ich meine.

Fahrradheld Andrea Burzacchini | JobRad

Quelle: Giulia Sabattoli

Fahrräder haben das Potential, Autos zu ersetzen.

placeholder
Andrea Burzacchini
Andrea Burzacchini ist Direktor und Gründer von aiforia, einer Agentur für Nachhaltigkeit, mit Sitz in Freiburg. Außerdem war Burzacchini sechs Jahre Vorsitzender bei der Mobilitätsagentur Mobility Agency of the Province of Modena (aMo) im italienischen Modena.
help

In welcher Stadt in Europa fahren Sie am liebsten Fahrrad? 

question_answer

Natürlich in meiner aktuellen Heimatstadt Freiburg! Doch am meisten überrascht haben mich in den letzten Jahren Paris und London. Wer hätte gedacht, dass man in diesen Metropolen einmal gut Fahrrad fahren kann? Und daran sieht man: Mit politischem Willen kann man aus einer fahrradunfreundlichen Stadt eine fahrradfreundliche machen. Wenn es wieder einmal um Forderungen nach mehr Fahrradinfrastruktur geht und ein (Kommunal-)Politiker oder eine (Kommunal-)Politikerin sagt: „Wir sind nicht Kopenhagen.“ Dann lassen wir diese Ausrede nicht mehr gelten. Paris, London und viele andere Städte haben bewiesen: Mit politischem Willen kann jede Kommune ein bisschen mehr Kopenhagen wagen. 

help

Stellen Sie sich vor, auf Ihrer Espressotasse landet morgen früh die Bike-Fee. Und Sie haben einen Mobilitätswunsch frei. Welcher wäre das?

question_answer

Die politische, strukturelle und kulturelle Wende: Wenn die meisten Wege zu Fuß, mit dem Fahrrad oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurückgelegt werden können, wird das eigene Auto überflüssig. Den PKW an sich müssen wir gar nicht abschaffen, denn er ist ein interessantes Produkt, das wir gemeinschaftlich nutzen können. Ich bin ein Fan des Car-Sharings; hier in Freiburg funktioniert das ziemlich gut. Aber wieso sollte dieser Wunsch eigentlich nur mit einer Fee in Erfüllung gehen? Für dieses politisches Ziel sollten wir kämpfen, oder nicht?

help

Ihre Traumschlagzeile in den Nachrichten im Jahr 2030?

question_answer

„In italienischen Städten sind die Menschen zu über 66 Prozent nachhaltig mobil und legen ihre Wege zu Fuß, mit dem Fahrrad oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurück. Das Zwei-Drittel-Ziel ist erreicht!“

help

Was würden Sie als Erstes tun, wenn Sie Verkehrsminister von Deutschland wären?

question_answer

Erstens: Ein sofortiges Tempolimit auf der Autobahn.

Zweitens: Ich würde eine Autobahnmaut einführen. Aber nicht mit einer Vignette wie in der Schweiz, sondern wie in Italien oder in Frankreich: Die Autofahrerinnen und Autofahrer müssten für die tatsächliche Benutzung bezahlen.

help

Wenn Ihr Fahrradreifen platt ist. Was machen Sie? a) „Ich repariere selbst“ oder b) „Ich gehe zum Fahrradladen meines Vertrauens“?

question_answer

Ich lass den Reifen flicken. Ich arbeite gerne mit Profis zusammen – und beim Rad pflegen und flicken bin ich selbst keiner. Und ich finde es wichtig, dass es gute Fahrradläden gibt, die unterstütze ich gerne.

help

Wie viele Räder stehen bei Ihnen im Schuppen/in der Garage/vor der Tür?

question_answer

Ich habe sie vorhin extra gezählt. In unserem Haus gibt es fünf Wohnungen, in denen 15 Menschen leben. Davor stehen 25 Fahrräder. Das macht 1,5 Fahrräder pro Person. Nicht schlecht, oder?

help

Wie ist Ihr Fahrstil: „Der Weg ist das Ziel?“ oder „Ab durch die Mitte?“

question_answer

Ich bin als urbaner Radler, der schnell von A nach B kommen möchte, ziemlich flott unterwegs und so immer schneller und bequemer mobil als mit dem Auto. Und Spaß macht Fahrradfahren auch.

help

Wer ist Ihre Fahrradheldin/Ihr Fahrradheld – und warum?

question_answer

Menschen, die in Rom, Athen oder anderen südeuropäischen Städten mit dem Rad unterwegs sind, das sind meine Fahrradheldinnen und -helden. Denn sie zeigen: Auch wenn es manchmal gefährlich ist und nicht immer Spaß macht – man kann auch in autozentrierten Städten Fahrrad fahren.